Konferenz am 10.12.19 im Kloster auf dem Heiligen Berg (Święta Góra) bei Gostyń aus Anlass der Zwangsumsiedlung der polnischen Bürger vor 80 Jahren durch die deutschen Besatzer aus dem „Warthegau“ in das „Generalgouvernement“.
Die Tagung wurde organisiert von der Stadt und dem Stadtmuseum Gostyń. Kooperationspartner war u. a. die DPG Sachsen.
Dorota Lisewska war am 30.10.1939 vier Jahre alt, als deutsche Soldaten ihr mit ihren drei kleinen Schwestern und ihren Eltern, der Vater war Schulleiter in Gostyń, 20 Minuten Zeit ließen, einige Kleidungsstücke zu sammeln. Ihnen wurden die Schlüssel weggenommen, sie wurden, wie viele andere ihrer Mitbürger, aus ihrem Haus getrieben, die Männer von den Familien getrennt, mit Güterwagen in das „Generalgouvernement“ verfrachtet, niemand wusste, wohin. Nach drei Tagen kamen sie in Radom an. Ein ähnliches Schicksal hatte Maria Maćkowiak. Sie war im November 1940, als ihre Familie aus ihrem Haus in Grabonog vertrieben wurde, neun Jahre alt. Nachts standen Soldaten an der Tür „raus, schnell ausreisen“. Sie wurden später in Güterwagen zusammengedrängt, als Toilette gab es ein Loch im Boden. In Łódź kamen sie „wie Verbrecher“ an. In einem „Durchgangslager“, es war wie eine Fabrik, gab es lange Verhöre, sie mussten sich völlig ausziehen. Personen ab 16 Jahren wurden als Zwangsarbeiter nach Deutschland geschickt. Später ging es weiter nach Krakau, sie mussten mehrfach die Wohnung wechseln, gute Menschen halfen ihnen. Am schlimmsten seien die Razzien gewesen. V. a. Männer seien abtransportiert worden, Geiseln wurden am Bahnhof aufgehängt, Schulunterricht fand geheim in kleinen Zimmern statt.
Nach einer Begrüßung durch den Hausherren Marek Dudek COr, den Superior der Kongregation vom Oratorium des Heiligen Filippo Neri Święta Góra und den Bürgermeister der Stadt Gostyń, Jerzy Kulak berichteten neben den genannten polnischen Zeitzeuginnen auf der Konferenz in Gostyń auch zwei Deutsche: Die Familie von Siegfried Rebehn lebte bereits seit 1763 auf polnischem Boden. Die Großeltern wurden während des 1. Weltkrieges in das russische Hinterland deportiert. Der Großvater trat 1918 in polnische Dienste. 1941 wurde die Großmutter mit Familie aus dem „Generalgouvernement“ in den „Warthegau“ ausgesiedelt, 1945 musste sie nach Westdeutschland umsiedeln. Die Tante wollte in Polen bleiben, ihre Kinder landeten in Heimen und verhungerten. Keines durfte auf polnischen Friedhöfen begraben werden. Die Eltern von Siegfried Rebehn wollten nichts mehr von Polen wissen, obwohl sie die polnische Sprache beherrschten. Er selbst war 1997 das ersteMal in Polen und lernte Marian Sobkowiak kennen. Eine Freundschaft schloss sich an.
Emil Berger, 1942 in Gostyń geboren, musste mit der Mutter 1944 Polen verlassen. 2018 war er zum ersten Mal wieder in Gostyń, wurde herzlich aufgenommen („Kommen Sie bald wieder“), besuchte das Haus seiner Großmutter und sah im Rathaus die Unterlagen über seine Familie. Er zog auch Parallelen zu heutigen Fluchtbewegungen; Ursache sei oft der Nationalismus.
Hier konnte Frau In Am Sayad Mahmood anknüpfen. Sie hatte als Ingenieurin für Elektrotechnik an der Universität Bagdad gearbeitet. Aufgrund des sozialen Engagements ihres Ehemannes wurde die Familie durch das Regime verfolgt und schwebte in Lebensgefahr. Die Familie, darunter eine Tochter und ein schwerbehinderter Sohn, floh 1996 nach Deutschland und musste 22-Mal das Flüchtlingslager wechseln. Schließlich landete die Familie in einer ehemaligen russischen Kaserne in Dresden, in welcher unzumutbare hygienische Verhältnisse herrschten. Nach Erlernen der deutschen Sprache wurde sie jedoch in Dresden heimisch und arbeitet jetzt ehrenamtlich im Christlich-Islamischen Dialog und in der Migrantenberatung. Sie erhielt den Sächsischen Integrationspreis und das Bundesverdienstkreuz.

Eingeleitet wurde die Konferenz durch Dr. Henryk Brzozowski COr von der gastgebenden Kongregation, der über das Schicksal der Bewohner des Klosters 1939-1945 berichtete, einen Vortrag des Leiters des Stadtmuseums Robert Czub, der die Ereignisse um die ersten Zwangsumsiedlungen Gostyner Bürger in das „Generalgouvernement“ schilderte, und einen Bericht des ehem. Senators Dr. Zbigniew Kulak, Gostyn, über die schwierigen Bemühungen um die staatliche Anerkennung des Klosters als damaligem Durchgangslager für die Bewohner des Landkreises Gostyń vor der Zwangsumsiedlung.
Dr. Jacek Kubiak vom polnischen Städtebund (Związek Miast Polskich), Posen, ist der Kurator der am Abend zuvor im Stadtmuseum Gostyn eröffneten Ausstellung „Wypędzeni 1939. Deportacje obywateli polskich z ziem wcielonych do III Rzeszy“ (Vertriebene 1939. Deportationen polnischer Bürger aus den ins Dritte Reich eingegliederten Gebieten). Er ist auch Mitautor einer entsprechenden Doku-Reihe. Auf der Konferenz sprach er über das Leid, welches das Drama der Vertreibung über die Menschen gebracht hat.
Die Arolsen Archives in Bad Arolsen, Hessen, verfügen über das weltweit umfassendste Archiv über die Opfer des Nationalsozialismus und gehören zum UNESCO-Weltkulturerbe. Auf der Konferenz berichtete die wiss. Mitarbeiterin Malgorzata Przybyla über einige tragische Schicksale von Opfer-Familien „Gestohlene Erinnerung – Gestohlene Heimat“, etwa im Rahmen der „Germanisierung“ geraubter polnischer Kinder oder in Zusammenhang mit der Deportation aus dem „Warthegau“ zur Zwangsarbeit. Die Archives können bei der Suche nach Dokumenten und Gegenständen, etwa von KZ-Häftlingen (sie verwies auf die Ausstellung „Stolen Memory“), helfen.
Dr. Wolfgang Nicht, Ehrenpräsident der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Sachsen, hatte das Thema „Heimat verlieren – Heimat finden. 1945: Polnische Umsiedler in Niederschlesien und deutsche Umsiedler in Sachsen“. Er stellte Vergleiche an „wie sich die Bilder gleichen“, nicht, um aufzurechnen, sondern um zu verstehen gemäß dem Wort von Jan Józef Lipski „Wir müssen uns alles sagen“. Er erinnerte sich an seinen ersten Besuch in Niederschlesien 1964 und die Situation dort heute: Die Polen der 2. und 3. Generation haben dort jetzt Heimat gefunden.

Zum Abschluss sprach Prof. Dr. habil. Maria Zielinska, Soziologin an der Universität Zielona Góra. Das Trauma der Vertreibung liege in der Beraubung der Identität. Hierbei seien bei der Verarbeitung der Traumata Unterschiede nach den jeweiligen Regionen festzustellen. So habe in der Woiwodschaft Lebus die Gemeinschaft der durchaus verschiedenen Vertriebenen eine Basis der Verständigung und eine Hilfe zu neuer Identität geschaffen. Auch habe das gemeinsame Schicksal und das Erbe der Vertreibung in Lebus zu höherer Akzeptanz gegenüber heutigen Flüchtlingen geführt.
Am Abend zuvor fand nach der Eröffnung der Ausstellung im Stadtmuseum ein Gottesdienst in der Basilika Święta Góra statt. An der Gedenktafel für die Vertriebenen aus der Gostyner Gegend an der Außenmauer des Klostergeländes legte auch die 7-köpfige Delegation der DPG Sachsen ein Blumengebinde nieder.

Bericht und Fotos: Wolfgang Howald